12.

Den größten Teil des nächsten Tages verbrachte Julia mit Ian. Er redete die meiste Zeit von sich und trotzdem wurde ihr nicht langweilig. Ian brachte sie zum Lachen und er nahm ganz selbstverständlich ihre Hand, wenn sie nebeneinanderher liefen.

Am Nachmittag kam Wind auf und wehte Staub und kleine Pflanzenteile in die Augen und die Kleidung der Versammelten. Als der Wind sich zu heftigen Sturmböen auswuchs, flüchteten alle in die beiden großen Zelte. Frank und Simon waren gerade dabei, Adas Zelt abzubauen, als die morsche Plane riss und das halbe Zelt in die Luft gewirbelt und davongetragen wurde.

Chaos herrschte und jeder sah zu, wie er seine Habe und sich selbst in Sicherheit bringen konnte. Ada, Hanna und Julia fuhren auf die Ranch zurück. Simon blieb, um beim Abbau der beiden großen Zelte zu helfen. Frank erklärte sich bereit, ihn später nach Hause zu fahren.

Hanna und Julia verschwanden im Trailer und fielen todmüde auf ihre Betten. Der Wind heulte um den Blechkasten und ließ ihn schwanken. Julias Blick fiel auf die drei Steine, die Simon auf das Schränkchen neben dem Bett gelegt hatte. Sie nahm sie nacheinander in die Hand. Zuerst den hellen, mit dunklen Punkten gesprenkelten, dann den grünen Stein. Simon hatte ihr vom Traum des Appaloosa-Hengstes erzählt und von den Träumen der Pflanzen in der Nacht. Als er davon gesprochen hatte, war es ihr merkwürdig vorgekommen. Doch nun, da sie das Gewicht der Steine in ihren Händen fühlte, bekam sie eine Vorstellung davon, was er meinte.

Julia drehte und wendete den grauen Stein in der Hand. Seine Oberfläche war rau und kantig, ein ganz gewöhnlicher Stein. Keine besondere Form und keine besondere Farbe. Sie fragte sich, aus welchem Grund Simon ihn ausgewählt hatte.

Mit dem grauen Stein in der Hand schlief sie ein, trotz des Sturms, der an der Verkleidung des Trailers riss und das Blech klappern ließ.

Es war die Stille, die sie weckte. Für einen Augenblick wusste Julia nicht, wo sie war. Der Sturm hatte sich gelegt und die roten Strahlen der untergehenden Sonne bahnten sich ihren Weg durch das kleine Fenster in den Raum.

Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Es war sieben Uhr abends, sie hatte drei Stunden geschlafen. Im Bad warf Julia einen Blick in den halb blinden Spiegel und ihr wurde bewusst, wie staubig und verschwitzt sie war. Samenkörner hatten sich in ihrem Haar verfangen und ihr Scheitel war von einer rötlichen Staubschicht bedeckt.

Sie lief durch den schmalen Gang zu ihrer Mutter und versuchte, sie zu wecken. Aber Hanna grummelte nur ungehalten und öffnete nicht einmal die Augen. Kurz entschlossen holte Julia ihre Waschtasche aus dem Bad, packte frische Sachen in einen Beutel und schrieb ihrer Mutter einen Zettel, auf dem stand, dass sie zur Badestelle gegangen war.

Dann machte sie sich auf den Weg.

Pepper hatte vor Simons Wohnwagen geschlafen und nun kam er angehumpelt, um sie ein Stück des Weges zu begleiten. Demnach war Simon immer noch nicht zurück vom Versammlungsplatz. Er tat ihr leid. Julia beschlich das Gefühl, dass ihre Großmutter Simons Gutmütigkeit und seinen Wunsch nach Anerkennung ausnutzte, so wie einige andere auch.

Sie streichelte Pepper zwischen den gelben Augen und er leckte ihr freudig die Hand. Dann marschierte sie los. An der Abzweigung zur Badestelle blieb der Hund stehen und bellte. Nach einer Weile machte er kehrt und humpelte zur Ranch zurück.

In der roten Abendsonne wirkten die Hügelkämme wie mit olivgoldenem Samt überzogen. Auf halber Strecke blieb Julia stehen und drehte sich einmal um die eigene Achse. Sie war ganz allein am Hang. Da entdeckte sie unvermutet den gefleckten Hengst, nur ein paar Meter von ihr entfernt. Seine Herde graste ein ganzes Stück weiter oben in den Bergen, aber der Graue schien wissen zu wollen, wer da in sein Revier eingedrungen war.

Er umrundete Julia in einem großen Bogen, der zu ihrem Entsetzen immer enger wurde. Schließlich blieb er stehen, hob den Kopf und wieherte laut. Julias Herz klopfte wild und Panik erfasste ihren ganzen Körper. Der baumlose Hügel bot nirgendwo Deckung.

Als sie hinter sich einen Wagen den Berg hinaufbrummen hörte und der Graue das Weite suchte, war sie unendlich erleichtert. Hanna war also doch noch aufgewacht und ihr gefolgt.

Sie irrte sich. Es war Simon, der in der Fahrerkabine des braunen Trucks saß. Er hielt neben ihr und öffnete die Beifahrertür. Pepper hockte auf der Sitzbank. Der Hund legte den Kopf schief und blickte Julia fragend an. Unschlüssig stand sie da. Was sollte sie mit Simon zusammen an der Badestelle? Allerdings hatte der gefleckte Hengst ihr eine solche Angst eingejagt, dass sie Simons Angebot auch nicht ausschlagen wollte.

»Na k-omm«, sagte er. »Es wird bald dunkel. Hast du überhaupt eine Taschenlampe eingesteckt?«

Natürlich nicht. Julia setzte sich neben Pepper und Simon fuhr bis zur Badestelle, ohne dass sie ein Wort miteinander sprachen. Oben angekommen, stieg Simon aus, sie jedoch blieb mit trotzig verschränkten Armen sitzen.

Simon steckte den Kopf in die Fahrerkabine. »Na, w-as ist?«

Julia blickte Simon fest in die Augen und fragte: »Wie hast du dir das eigentlich gedacht?«

»G-G-Ganz einfach. Erst du und dann ich. Fang an! Gleich wird es N-acht.«

Julia rührte sich nicht von der Stelle. Lieber blieb sie so dreckverschmiert und verschwitzt, wie sie war, als dass sie sich vor einem

Jungen auszog, den sie erst seit fünf Tagen kannte.

»Was ist? K-K-Kein Vertrauen? Ich werde schon nicht hinsehen.«

Die Erschöpfung zeichnete sich in Simons Gesicht ab und Julia hatte den Eindruck, als ob er gleich umfallen würde vor Müdigkeit. Vermutlich war sein Vorschlag vollkommen harmlos und ihre Fantasie ging bloß mal wieder mit ihr durch.

Julia wusste nicht, was sie sagen sollte, also schwieg sie.

»Pepper und ich werden so lange aufpassen, dass kein Kojote kommt und deine Kleider holt.« Simon lächelte schief.

Julia wusste, dass es kindisch war, wenn sie jetzt nicht aus dem Wagen stieg und ein Bad nahm. Denn Simon würde es mit Sicherheit tun, ob sie nun da war oder nicht.

Sie stieg aus und schlug die Tür hinter sich zu.

Simon wollte Julia helfen, kaltes Wasser aus der Tonne heranzutragen, aber sie lehnte ab. Mit einem Achselzucken überließ er ihr die Arbeit, setzte sich in den Pick-up und wandte ihr den Rücken zu. Während sie damit beschäftigt war, Wassereimer heranzuschleppen und die richtige Wassertemperatur zu finden, verstellte er den Rückspiegel so, dass er die Badestelle im Blick hatte. Dann knipste er seine Taschenlampe an und tat, als würde er lesen.

Aber die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen.

Als Simon den Blick hob und im kleinen Spiegel sah, wie Julia aus ihren Kleidern stieg, fiel schlagartig alle Erschöpfung von ihm ab. Er hatte schon ein paar schöne Dinge gesehen in seinem Leben, aber nichts, das ihm so vollkommen schien wie Julias unbekleideter Körper.

Er fühlte sich mies, weil er ihr Vertrauen auf so feige Art hinterging, aber er hatte auch nicht die Kraft wegzusehen. Julia war schlank, aber nicht mager, und ihre langen Beine waren wohlgeformt. Der Anblick ihrer runden Brüste mit den dunkelbraunen Knospen ließ Simons Herz schneller schlagen und bunte Wünsche in seinem Hirn Gestalt annehmen.

Er stellte sich vor, wie es wäre, Julia zu umarmen, den Duft ihrer Haut zu riechen, sie vielleicht zu küssen und . . . seine Fantasie kannte keine Grenzen. Doch zu Simons großer Enttäuschung war das, was er nun zu sehen bekam, die mit Sicherheit schnellste Badeaktion, die dieser Ort je erlebt hatte. Binnen fünf Minuten wusch Julia ihre Haare, seifte sich ein, tauchte unter und sprang wieder aus der Wanne. Sie beeilte sich wie verrückt, in ihre frischen Sachen zu kommen.

Hin und wieder warf sie ihm einen hastigen Blick zu und dann tat er so, als wäre er in sein Buch vertieft. Während sie sich nach unten beugte, um einen Handtuchturban auf ihrem Kopf zu formen, stellte er den Spiegel in seine richtige Position zurück.

»Ich bin fertig«, rief sie.

Simon atmete tief durch, schlug das Buch zu und knipste das Licht aus. »Gut.« Es hörte sich an wie ein Seufzen.

Während Simon neues Wasser in die Wanne füllte, kämmte Julia ihre langen Haare. Dann setzte sie sich mit dem Rücken zu ihm in den Pick-up, wie er es zuvor auch getan hatte.

»Kann ich in deinem Buch lesen?«

Es plätscherte. »Weiß n-nicht, ob du das kannst.«

Julia langte nach dem roten Band und las den Titel. The Communist Manifesto, by Karl Marx. Ich glaub es nicht, dachte sie. Simon hockte tatsächlich hier am Ende der Welt und las das Kommunistische Manifest von Marx. Und er war ein genauer Leser. Einige Passagen im Buch hatte er rot angestrichen und sich Anmerkungen dazu gemacht.

Julia las und blätterte, begierig darauf, mehr über Simon und das, was in seinem Kopf vorging, zu erfahren.

Als er schließlich vor ihr stand, mit tropfnassen Haaren, sein feuchtes rotes Handtuch um den Hals gelegt, leuchtete sie ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht und fragte: »Wie kann man so was bloß freiwillig lesen?«

Simon griff nach der Lampe und knipste sie aus. »Wieso? B-B-Bekommt man davon etwa auch schlechte Zähne?«

»Mit Sicherheit.« Sie lachte. »Willst du die Welt verbessern, wie meine Granny?«

Simon zuckte mit den Achseln. »Es interessiert mich eben.«

»Na schön. Und was liest du sonst so?«

»Du kannst mich ja mal besuchen, dann zeige ich es dir.«

Er stieg ein und startete den Motor. Rasselnd und quietschend setzte sich die Kiste in Bewegung. Julia fühlte sich behaglich sauber und war froh, jetzt nicht im Halbdunkel allein zurücklaufen zu müssen und womöglich wieder dem grauen Hengst zu begegnen.

Sie fragte Simon nach dem Pferd.

Er grinste. »Hattest du Angst?«

»Ja, verdammt. Er hat mich eingekreist.«

»Sein N-ame ist Tobacco und er ist völlig harmlos. Der Appaloosa ist eingeritten, er mag Menschen. Er wollte nur mit dir spielen.«

Spielen? »Ich werde es mir merken.«

Im Trailer brannte Licht. Hanna hatte also endlich ausgeschlafen. Simon hielt an, um Julia aussteigen zu lassen.

»Danke fürs Mitnehmen«, sagte sie.

Er nickte nur.

»Gute Nacht, Simon.«

In der Tür drehte sie sich noch einmal um und winkte ihm zu. Drinnen wurde sie von ihrer Mutter bereits erwartet.

»Da bist du ja endlich.« Hanna war gereizt, das hörte Julia sofort.

»Ich war an der Badestelle. Hast du meinen Zettel nicht gelesen?«

»Es ist dunkel draußen.«

»Simon hat mich im Truck mitgenommen.«

»Simon? Und was hat er dort oben gemacht?«

»Auch gebadet.« Hanna musterte sie scharf. Julia seufzte tief auf. »Wenn du es genau wissen willst: Er hat gele

sen, während ich in der Wanne saß.«

»Gelesen?«

Oh wie gut Julia diesen Tonfall kannte. »Das Kommunistische Manifest.« »Veralbern kann ich mich alleine, Julia.« »Ich veralbere dich nicht, Ma. Er saß mit dem Rücken zu mir und

hat Marx gelesen. Ich verstehe nicht, warum du dich so aufregst.« »Ich rege mich nicht auf, ich habe einfach genug von alldem hier.

Wir reisen morgen ab.« »Was?« »Ist Boyds Schwerhörigkeit ansteckend? Ich sagte: Wir reisen

morgen ab. Deine Großmutter weiß Bescheid. Du kannst schon mal

deine Sachen zusammenpacken.« »Aber wir hatten Mittwoch ausgemacht. Morgen ist erst Montag.« »Ja, aber bis Mittwoch stehe ich das nicht mehr durch. Im Gegen

satz zu dir kann ich hier nichts Vergnügliches finden. Deine Grandma kommandiert mich herum, als wäre ich ihre Dienstmagd. Ich hab mir den Magen verdorben und weit und breit gibt es kein ordentliches Klo. Ich muss hier weg, Julia, sonst drehe ich noch durch.«

Das war eine von Hannas Lieblingsdrohungen: »Sonst drehe ich noch durch.« Aber diesmal hatte Julia das ungute Gefühl, es könnte etwas Wahres dran sein. Ihre Mutter klang ziemlich hysterisch.

»Na gut«, sagte sie. »Ich verstehe dich.« Erleichtert atmete Hanna aus. »Du kannst fahren und ich bleibe hier«, sagte Julia. »Vergiss es.« »Aber warum denn? Ada und Boyd sind meine Großeltern. Ich mag

sie und ich will sie besser kennenlernen. Mir gefällt es hier auf der Ranch. Ich habe keine Lust auf Kalifornien und auch nicht auf deine Freundin Kate. Macht euch zu zweit eine schöne Zeit.«

Hanna ließ sich auf die Couch fallen. »Ich kann dich nicht alleine hierlassen, Julia.«

»Ich bin ja nicht alleine.«

Hanna musterte ihre Tochter eindringlich.

Julia hob die Schultern. »Grandma, Grandpa, Loui-Loui, Pepper, Pipsqueak, die Ziegen, die Hühner, Tobacco . . .«

»Tobacco?«

»Ein liebes Pferd.«

»Und Simon?«, fragte Hanna.

»Der auch.«

»Aber ich will nicht, dass sich alles wiederholt.«

»Was wiederholt?«

»Na, die Geschichte zwischen deinem Pa und mir. Du bist dabei, dich in Simon zu verlieben, Julia. Merkst du das denn nicht?«

Julia schluckte verwirrt. Spürte ihre Mutter vielleicht etwas, das sie selbst nicht wahrhaben wollte? Julia glaubte nicht daran. Was wusste sie schon über Simon? Nicht das Geringste. Sie mochte ihn, das war alles. Es war etwas Stilles und Einsames an ihm, das ihr gefiel. Simon konnte zuhören und Julia hatte das Gefühl, dass er verstand, was in ihr vorging. Außerdem hatte er ihre Großeltern gern, das allein machte ihn schon zu einem besonderen Menschen. Aber Liebe? Julia dachte an Ian und an das, was sie bei seinem Kuss empfunden hatte. Sie war einfach nicht bereit, sich zu verlieben. In ihr war kein Platz für große Gefühle.

»Ich glaub nicht, dass du dir Sorgen machen musst«, sagte Julia. »Simon ist nicht mein Typ.«

Hanna schien es nicht schwerzufallen, das zu glauben. Trotzdem fragte sie: »Kann ich dir vertrauen?«

Julia spürte, wie Jubel in ihr aufkeimte, aber sie ließ es sich nicht anmerken. »Klar. Das weißt du doch.«

»Na gut. Unter zwei Bedingungen darfst du bleiben.«

Bedingungen? Mist. »Und die wären?«

»Vorausgesetzt natürlich, Ada ist es recht, dass du bleibst, erwarte ich von dir, dass wir regelmäßig miteinander telefonieren. Außerdem wirst du zu deinen Großeltern ins Ranchhaus umziehen.«

Großer Mist. »Aber ich fühle mich wohl hier im Trailer«, protestierte Julia. »Es ist nicht das Hilton, aber ich habe meine Privatsphäre.«

»Das ist es ja eben. Du wärst ganz allein hier draußen und das gefällt mir nicht. Man kann ja noch nicht mal die Tür verriegeln.«

»Ich habe keine Angst.«

»Es ist dumm, keine Angst zu haben, Julia. Du hast ja keine Ahnung, wie die Dinge hier laufen. Wenn du nicht ins Ranchhaus umziehen willst, kommst du mit nach Kalifornien.«

»Okay«, Julia lenkte ein. »Wenn dich das glücklich macht, werde ich umziehen.«

»Gut.«

Sie umarmte ihre Mutter spontan und gab ihr einen Kuss. »Kannst du mir noch den Zopf flechten?«

»Klar.«

Hanna flocht Julias Zopf, die Haare waren noch feucht. »Wer wird das für dich tun, wenn ich nicht da bin?«, fragte sie.

»Ich muss es eben selber machen.«

Hanna umschlang das Ende des Zopfes mit einem Gummi und sagte: »Dann schlaf gut, meine kleine Indianerin.«

»Ja, du auch, Ma.«

Julia putzte Zähne, kroch in ihr Bett und rollte sich in die dünne Decke. Sie war selbst noch völlig überrascht von ihrer eigenen Entscheidung. Der Wunsch, auf der Ranch bleiben zu wollen, war eine plötzliche Eingebung gewesen, ein Bauchgefühl. Als ob es da etwas gab, das sie verstehen wollte. Was sie in drei langen Wochen an diesem Ort am Ende der Welt anstellen wollte, war ihr jedoch selber nicht ganz klar.

Es würde nicht leicht werden, das wusste sie. Aber zum ersten Mal seit dem Tod ihres Vaters hatte Julia das Gefühl, dass das Leben eines Tages vielleicht doch wieder schön sein könnte.

Simon stellte den Truck auf dem Hof ab und ging noch einmal ins Ranchhaus, um den beiden Alten eine gute Nacht zu wünschen. Tommy gab freudige Laute von sich, als er Simons Stimme erkannte, und Simon strubbelte ihm lächelnd über den Kopf.

»Die Wegweiser müssen morgen wieder eingesammelt werden, bevor irgendwelche Kids sie als Zielscheiben benutzen«, sagte Ada.

»Und du musst Dachpappe besorgen«, erinnerte ihn der alte Mann. »Einige Dächer im Camp sind undicht.«

Simon nickte. »Ich k-k-kann ja Julia mitnehmen«, sagte er. »Wir fahren nach Battle Mountain in den Baumarkt, um die Pappe zu b-esorgen, und auf dem Rückweg sammeln wir die Schilder ein.«

Ada musterte ihn aufmerksam. »Daraus wird wohl nichts werden. Hanna und Julia reisen morgen ab.«

Der Schreck durchzuckte ihn wie ein glühender Blitz und er hatte große Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. »W-ollten sie n-n-nicht länger bleiben?«, fragte er. Simon versuchte beiläufig zu klingen, aber seine Panik war deutlich herauszuhören.

Adas Blick wurde noch durchdringender. »Schon. Aber anscheinend gefällt es ihnen hier nicht. Das Leben auf der Ranch ist den beiden zu primitiv. Ich kann es ihnen nicht verdenken. In Deutschland wohnen sie in einem schicken kleinen Haus mit allen Annehmlichkeiten.«

Simon schüttelte ungläubig den Kopf. Er wusste, dass Ada Hanna nicht mochte, und es widerstrebte ihm, sich anzuhören, wie die alte Frau abfällig über Julias Mutter redete. Hanna hatte versucht, es ihrer Schwiegermutter recht zu machen, doch das war ein aussichtsloses Unterfangen gewesen. Ada war der Überzeugung, Hanna hätte John verhext, weil er freiwillig mit ihr in ein fremdes Land gegangen war. Dass er dort gestorben war, würde Ada ihrer weißen Schwiegertochter nie verzeihen.

Er stammelte den beiden Alten einen Gutenachtgruß zu und machte sich mit der Taschenlampe auf den Weg zu seinem Wohnwagen. Als er am Trailer vorbeikam, sah er, dass drinnen noch Licht brannte. Ein erster Impuls trieb ihn, anzuklopfen und mit Julia zu sprechen.

Simon wusste, dass Julia anders war als ihre Mutter. Nach dem ersten Schock hatte sie Gefallen an der Ranch gefunden, das zeigte sich in vielen kleinen Dingen. Es machte ihr Freude, Pipsqueak zu füttern und die weißen Ziegenkinder zu besuchen. Jedes Mal hatte sie ein paar Zärtlichkeiten für Pepper und Loui-Loui übrig, egal wie staubig die beiden waren.

Julia mochte ihre Großeltern, auch wenn das bestimmt manchmal nicht leicht war. Sogar an Tommy hatte sie sich schnell gewöhnt. Sie hatte keine Angst vor Hässlichkeit und wandte sich nicht ab von Menschen, die ihr fremd waren oder wunderlich vorkamen.

Erst jetzt, als Simon keine Zeit mehr blieb, um irgendetwas auszurichten, gestand er sich ein, wie gern er Julia hatte und wie einsam er in den vergangenen Monaten gewesen war. Wenn er doch nur ein bisschen mehr Zeit hätte, um ihr das zu sagen. Aber nun würde sie abreisen und weder Wünsche noch Eingeständnisse konnten daran etwas ändern.

Wie betäubt lenkte Simon seine Schritte in Richtung Wohnwagen. In ein paar Stunden würde Julia nicht mehr da sein. Dann war er wieder allein mit den beiden Alten und den Tieren, allein mit sich und seinen unausgesprochenen Fragen, Wünschen und Gedanken. Er würde wieder anfangen Selbstgespräche zu führen oder Pepper lange Vorträge zu halten, um das Gefühl für Worte nicht endgültig zu verlieren.

Eine unerträgliche Traurigkeit überfiel Simon, als er auf seiner Schlafcouch lag. Nicht einmal Peppers Anwesenheit vermochte ihn zu trösten. Er versuchte zu lesen, um sich abzulenken. Aber seine Gedanken schweiften immer wieder fort von den Zeilen. Die Buchstaben begannen zu tanzen und bald wusste er nicht mehr, was er eine Minute zuvor gelesen hatte.

Schließlich knipste Simon das Licht aus. Er schloss die Augen, doch einschlafen konnte er nicht. Im Wohnwagen war es heiß und stickig, trotz der beiden aufgeklappten Fenster. Und da war diese unerträgliche Spannung in ihm, die ihn immer wieder an Julia und ihre hübschen Brüste denken ließ. Es nahm ihm den Atem, wenn er sie vor sich sah. Stöhnend rollte sich Simon auf den Bauch, die Hände zwischen den Beinen. Für ein paar Minuten war das die einzige Möglichkeit der Erlösung.

Aber auch danach fand er keine Ruhe. Bisher waren seine Wünsche auf einige wenige Dinge reduziert gewesen: ein gutes Buch, ein kaltes Mountain Dew, etwas Anständiges im Magen, ein trockener Platz zum Schlafen und die Berge für seine Wanderungen. Peppers weiche Wärme, Pipsqueaks Zuneigung, ein Song von Walela, seiner Lieblingsband.

Seit Simon Julia kannte, waren seine Wünsche andersfarbig geworden. Sein Körper wollte mit ihr zusammen sein. Er hoffte, sie würde ihn mögen. Nicht nur so, als jemanden, mit dem man sich wortlos versteht. Nein, er wünschte sich mehr: Er wollte ihr gefallen. Doch er wusste nicht, was er tun musste, damit sie ihn mochte.

Simon hatte sich nie Gedanken über sein Aussehen gemacht und wie es auf andere wirkte. Kleidung war ihm egal, sie musste bloß praktisch sein. Ihm fehlte sowieso das Geld, um sich etwas Neues zu kaufen.

Als er nach Eldora Valley gekommen war, hatten ihn die Mädchen im Ort mit unverhohlener Neugier betrachtet und ein oder zwei hatten ihn sogar angesprochen. Aber vor Aufregung hatte ihm jedes Mal die Stimme versagt, und wenn er zu stottern anfing, verflüchtigte sich das Interesse der Mädchen sehr schnell. Wer wollte sich schon mit einer Spottfigur abgeben?

Bei Julia war das anders. Sie hörte ihm zu und wartete geduldig, bis er fertig war mit dem, was er zu sagen hatte. Sie versuchte nicht, seine Sätze zu vollenden, wenn es zu lange dauerte. In ihrer Gegenwart war alles unkompliziert. Er konnte ihr nicht einmal böse sein, wenn sie über ihn lachte. Simon träumte von Julia. Er versuchte, es nicht zu tun, aber es half nicht.

In dieser Nacht wurde ihm klar, dass mit seinen Wünschen auch er selbst sich verändert hatte. Es verwirrte ihn, dass er plötzlich die Nähe eines anderen Menschen suchte. Dass seine Gedanken von diesem Menschen beherrscht wurden. Simon sehnte sich nach Gefühlen, doch niemand hatte ihm beigebracht, wie man liebt.

Die verborgene Seite des Mondes
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